Stories_Viennale 2004/Tarnation

"Sick parents, sick children"

Manchen Viennale-Film hat man schon beim Kinoausgang wieder vergessen. An dieses No-Budget-Meisterwerk der Selbstentblößung wird man sich aber noch lange erinnern.    27.10.2004

Wenn angekündigte Sensationen dem beliebten Sinnspruch zufolge ausbleiben und prognostizierte Festival-Highlights wegen akuter Handlungs- ("House of Flying Daggers") oder Abschlußschwächen ("Feux rouges") sich als leidliche Enttäuschungen entpuppen, genau dann ist ein Film wie "Tarnation" der Stoff, aus dem zwar nicht die Träume, wohl aber handfeste und unerwartete Überraschungen gemacht sind.

Im Rahmen der Viennale in die neue Nebenprogrammschiene "Propositions" programmiert - deren Motto "Ausgewählte Beispiele eines Neuen Kinos" hier auch tatsächlich den Ton vorgibt -, war der Film ein paar Wochen vorher schon mit reichlich Wirbel, Euphorie und Medienecho in den US-Programmkinos angelaufen. Gerade einmal 218 Dollar hätte es Filmemacher Jonathan Caouette gekostet, Unmengen an Videoschnipseln, Found Footage und Super-8-Filmen mit dem Gratisvideoschnittprogramm "iMovies" zu einem eineinhalbstündigen Film zusammenzuschneiden, heißt es in so gut wie jeder Filmbesprechung (und somit auch in dieser). Und bevor man erschrocken "Halt!" rufen möchte in Anbetracht der schon in den Startlöchern scharrenden Apple-Geeks, die nun den Zeitpunkt gekommen sehen, ihre fade Home-Tape-Sammlung prestigeträchtig unters Cineastenvolk bringen zu können, sollte man sich "Tarnation" schon ansehen.

Denn der ist nichts weniger als eine Wucht. Und ein mit aller Wucht der Verzweiflung zusammengetragenes Kaleidoskop menschlichen Zusammenbruchs, das eigentlich als Märchen beginnt: Hübsches kleines Mädchen wird von berühmtem Photographen entdeckt und fortan als Kinder-Model-Star etabliert - bis Renée allerdings eines Tages vom Dach des Hauses fällt und zur Behebung der dadurch hervorgerufenen Paralyse jahrelang zu Elektroschocktherapien geschickt wird. Das ist der Anfang vom Ende ihrer geistigen Normalität, meint zumindest ihr Sohn Jonathan Caouette. Denn die Geschichte der unglücklichen Lebenslaufbahn Renée LeBlancs ist untrennbar verhängt mit seiner eigenen, ebenfalls äußerst unglücklichen.

 

Infolge der immer häufiger werdenden Psychiatrieaufenthalte seiner Mutter (der Vater ist längst über alle Berge) wächst er von frühester Kindheit an bei Stiefeltern auf, die ihn zumeist auch noch mißhandeln. Früh beginnt er, sein tristes, "echtes" Leben durch ein besseres, selbstkonstruiertes auszutauschen und sukzessive Realität mit Fiktion zu vermengen, um sie nach einem verhängnisvollen Drogenzwischenfall (zwei mit PCP versetzte Joints in früher Jugend) endgültig nicht mehr voneinander trennen zu können.

All dies hält Caouette auch auf Filmmaterial fest. Als Elfjähriger liefert er einen Oscar-reifen Auftritt als gedemütigte 40jährige Ehefrau, den man gesehen haben muß, um ihn zu glauben. Danach ein High-School-Projekt, in dem er "Blue Velvet" als Musical verfilmt, und später unzählige Slasher-Filme. Und dabei dennoch immer wieder die Sorge um die zusehends verfallende Mutter und die Angst, selbst genauso zu enden.

Was sich in der Nacherzählung schon sehr ungewöhnlich anhört, entfaltet sich erst auf der Leinwand zu seiner ganzen Großartigkeit. Unterlegt von einem phänomenalen Soundtrack (Cocteau Twins, Low, Magnetic Fields etc.), entspinnt sich aus unzähligen Einzelbildern und Kurzfilmen ein im hochsuggestiven Collagenstil verdichtetes Real-Life-Psychodrama. Caouette verzahnt zutiefst verstörende Erlebnisse zu einem hypnotischen Strom der Bilder und Töne, zu einem wütenden und zugleich poetischen Filmkunstwerk, das pocht und schmerzt, wie sonst nur echtes pochendes und schmerzendes Leben das kann. Eine unnachgiebige Tour de force, die man auf keinen Fall so schnell vergessen mag. Oder kann. Wie dem auch sei, die Entdeckung der diesjährigen Viennale war "Tarnation" auf jeden Fall.

Christoph Prenner

Tarnation


USA 2003

88 Min.

OF

Regie: Jonathan Caouette

Darsteller: Jonathan Caouette, Renée LeBlanc, Rosemary Davis u. a.

 

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