Video_Spider
Spinnennetz im Kopf
Wenn Sie nach diesem Film so vor sich hinzumurmeln anfangen wie Ralph Fiennes, ist das kein Wunder, sondern der "Cronenberg-Effekt". Der funktioniert immer.
15.10.2004
Hört man über einen Film, daß sowohl der Regisseur als auch die Hauptdarsteller auf ihre Gagen verzichtet haben, um das Werk trotz geringen Budgets verwirklichen zu können, dann handelt es sich dabei oft um einen Promo-Schmäh. Heißt der Mann, der sowas sagt, jedoch David Cronenberg, dann ist man geneigt, ihm zu glauben - denn der Schöpfer von Meisterwerken wie "Videodrome", "Crash", "Naked Lunch", "eXistenZ" und vielen anderen war nie einer, der für seine Kunst Kompromisse einging.
"Spider", der weltweit nicht in allzuvielen Kinos zu sehen war (und wenn, dann nicht lange - dazu hat die Gehirnwäschemaschine bereits zuviel Schaden angerichtet) ist die Verfilmung eines Romans des britischen Autors Patrick McGrath, der auch das Drehbuch verfaßte, das Cronenberg davon überzeugte, den Regie-Job zu übernehmen. McGrath gilt als einer der ganz wenigen Autoren weltweit, die es schaffen, literarisch anspruchsvolle "gothic novels" (also solche, die dem durchschnittlichen Goth-Fan so gar nichts sagen ...) zu schreiben. Er ist ein Meister im Schildern psychologisch gestörter Innenwelten, medizinischer Phänomene, hoffnungslos-unheimlicher Umgebungen - also genau der richtige Kollaborateur für einen Regisseur, der sich während seiner gesamten Karriere immer wieder kompromißlos mit derartigen Themen befaßte.
Der aus dieser Zusammenarbeit resultierende Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der zum ersten Mal seit seiner Kindheit aus der Irrenanstalt entlassen wird und in einer schmierigen, billigen, staatlich finanzierten Pension landet, wo lauter Leidensgenossen ihr Dasein fristen. Er nennt sich "Spider", weil das der Spitzname ist, den ihm einst seine Mutter gab. Der möglicherweise schizophrene Expatient (unglaublich eindrucksvoll dargestellt von Ralph Fiennes) murmelt die ganze Zeit halblaut unverständliches Zeug vor sich hin, ist kaum ansprechbar, leidet unter seltsamen Ticks und führt ein heimliches Tagebuch auf Zetteln, die er mit unverständlichen Schriftzeichen vollkritzelt. Im Lauf der Handlung erinnert er sich immer wieder an seine Kindheit, an den trunksüchtigen Vater (Gabriel Byrne) und die keusche, liebenswerte Mutter (Miranda Richardson), die plötzlich verschwand und durch eine fette, ordinäre Nutte aus dem Pub (ebenfalls: Miranda Richardson) ersetzt wurde. Hat Bill Cleg seine Frau tatsächlich ermordet und im kleinen Schrebergarten neben den Bahngleisen vergraben - oder bildet sich Spider das alles nur ein? Jede auftauchende Erinnerung verändert die alte Geschichte, fügt ihr neue Erkenntnisse hinzu, bis sich die Wahrheit endlich ihren Weg ans Licht von Spiders wirrem Verstand gebahnt hat. Zugleich aber nehmen die Wahnzustände des Protagonisten so zu, daß man auch an dieser Version zweifeln muß.
"Spider" ist ein von allen Beteiligten, in erster Linie Fiennes und Richardson (die auch noch in einer dritten Rolle ihre schauspielerische Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellt), aber auch von Nebendarstellern wie Lynn Redgrave und John Neville wunderbar gespielter Film, der von David Cronenberg derart deprimierend und hoffnungslos inszeniert wurde, daß man sich als Zuseher gegen Ende selbst im "Spinnennetz" dieses hoffnungslosen Mannes/Kindes verfangen glaubt. Im Rahmen der Extras der vorliegenden DVD erzählt der Regisseur im Interview, daß er nicht etwa das Krankheitsbild der Schizophrenie filmisch umsetzen wollte, sondern einfach nur seine Geschichte aus dem Blickwinkel eines geisteskranken Mannes erzählen, eines Protagonisten, dem man in Sachen Wahrheitsgehalt bis zum Schluß nicht trauen kann - wodurch auch das schockierende Ende wieder relativiert wird. Um zu zeigen, wie es in Spiders Kopf zugeht, entfernte Cronenberg etwa nach und nach alle bereits engagierten Statisten von den hoffnungslos düsteren Hintergassen Londons, bis Spider ganz allein war - so wie bei allen Außenaufnahmen in diesem Film.
Also: Genial, verstörend und unbedingt sehenswert! Die deutsche DVD-Ausgabe von "Spider" soll übrigens am 23. November erscheinen.
Peter Hiess
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